Freitag, Januar 12, 2007

Kunst

Heute abend in einer Galerie - soll ich hingehen...? Will ich das sehen? Wie würde ich reagieren?

Ein holländisches Zwillingspaar stellt die eigene Magersucht zur Schau. Die Werke lassen den weiblichen Körper buchstäblich verschwinden.



Die Arme sind so dünn, dass man ihnen das Gewicht eines Gucci-Täschchens nicht zumuten mag. Die spitzen Hüftknochen müssen sich bei jeder Bewegung an den Jeans wundscheuern. Und wenn die beiden identisch aussehenden Frauen sich auf dem Video gegenseitig mit einem halben Cracker füttern, sieht das aus, als folterten sie einander.

Die Szenen stammen nicht etwa aus einer Klinik für Magersüchtige, sondern aus derVideo-Installation «Wild Zone», die in renommierten Galerien gezeigt wird. Anorexie als Kunst.

Die Modekrankheit Magersucht ins Museum gebracht haben die holländischen Zwillinge Liesbeth und Angelique Raeven. Die 36-jährigen Konzeptkünstlerinnen aus Amsterdam setzen seit Jahren schon auf Körper-Arbeiten. Doch erst mit der Inszenierung der eigenen Essstörung gelang ihnen der Durchbruch: 2001 rekrutierten L. A. Raeven, wie sich die beiden kollektiv nennen, mittels Zeitungsinseraten eine «Armee idealer Individuen»: Aufgenommen wurden 1 Meter 70 grosse flachbrüstige Frauen mit einem Hüftumfang von höchstens 80 Zentimetern, Haarausfall und ungewöhnlichen Essgewohnheiten. Die Zwillinge versammelten also ihresgleichen um sich, tauften ihre Kunstform «ästhetischerTerrorismus» und marschierten mit derAnorexie-Armee durch Galerien und Museen.

Jetzt treten sie erstmals in der Schweiz auf: In derZürcher Galerie Haas & Fischer zeigen L. A. Raeven die Live-Performance «Mindshare». Kurator Roger Haas entschuldigt sich schon im Voraus für allfällige Proteste: «Die Zwillinge sprengen Grenzen, sie sind in jeder Hinsicht extrem. Nicht umsonst lassen viele Galeristen die Finger davon.»

Tatsächlich ernteten die anorektischen Twins ausserhalb eines kleinen Kunstzirkels bisher hauptsächlich Entsetzen und Wut. Zeitungen, darunter der englische «Guardian», boykottierten ihre Anorexie- Armee-Plakate, das Publikum stürmte die Performances.

Die Zurschaustellung der kranken Körper mag einer Freakshow gleichen. Doch genau das ist Kalkül. «Man kann nackt auftreten und auf der Bühne vergewaltigt werden, das lässt heute alle kalt. Nur wer zu dünn ist, kann offenbar noch schockieren», kommentieren L. A. Raeven ihre Auftritte. Der britische Kurator Philip Dodd war der Erste, der die Zwillinge nicht als Opfer des Schlankheitswahns verstand, sondern als «moderne Hungerkünstlerinnen» in die Tradition der zeitgenössischen Körper-Kunst stellte. Er holte die Schwestern 2002 nach London in sein Institute of Contemporary Art und ebnete ihnen damit den Weg nach Wien, Berlin und New York.

L. A. Raeven sind nicht etwa eine doppelte Nicole Richie, keine Vertreterinnen des tatsächlich kranken Anorexie-Schicks. Und sie sind auch nicht die ersten Künstlerinnen, die mit der Verstümmelung des Körpers Aufsehen erregen: Die französische Performerin Orlan liess sich neunmal operativ verunstalten und übertrug die Eingriffe live in Museen; der Amerikaner David Blaine hungerte sich 2003 44 Tage lang zum Schatten seiner selbst, aufgehängt in einer durchsichtigen Zelle im Londoner Potters Fields Park.

L. A. Raeven gehen einen Schritt weiter: Ihre Anorexie ist nicht Metapher, sie ist körperliche Realität. Die Zwillinge bringen den weiblichen Körper zum Verschwinden – immerhin das populärste Motiv der abendländischen Kunstgeschichte.